Eine Geschichte für eine virtuelle Welt, in der man sich selbst kennenlernt.
Eine Reise zum Kern der eigenen Persönlichkeitsentwicklung.

Meine Augen öffneten sich langsam. Als ich anfing, die immer heller werdende Gegenwart wahrzunehmen, erinnerte ich mich vage an die letzte halbe Stunde. Ich sah mich um und blinzelte, um die kleinen weißen Punkte aus meinem Sichtfeld zu vertreiben. Nachdem ich mich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatte und klar sehen konnte, fuhr mir ein Schauer über den Rücken. Was war das hier für ein Ort?
Ich blickte unentwegt in einen gigantischen Spiegel. Die Welt, in der ich mich befand, war wüst und von Zerstörung heimgesucht. Andere Menschen sah ich nicht. Ich ging los und suchte unbewusst automatisch den Bezug zu bereits Bekanntem. Ich starrte unentwegt auf den gigantischen Spiegel, der weit hinter der Welt zu schweben schien. Obwohl er hunderte Kilometer weit weg sein musste, konnte ich mich und meine Bewegungen, die Spiegelung meiner Selbst, perfekt wie in einem Großformat erkennen. Es war wie ein neuer Sinn, eine andere Sichtweise auf mich. Ich fühlte mich beobachtet. Was war der Sinn dieses Spiegels? Machen wir das Beste draus, dachte ich bei mir und ging eine Düne hinab zu dem beginnenden Straßennetzwerk, welches erst von kleinen, dann von immer größer werdenden Häusern umschlossen und geschmückt wurde.
Als ich in die Stadt eintreten wollte, vorbei an verrosteten Autos, Bussen und entgleisten Zügen, leeren Häusern und leeren Gärten, wurde mir etwas unwohl zumute. Etwas veränderte sich. Man konnte plötzlich, aus weiter Ferne, ein Geräusch wahrnehmen. Ein Flugzeug, möglicherweise. Das kommende Szenario lässt sich nicht sehr leicht beschreiben. Wie im Instinkt versuchte ich, mich in die Stadt hinein zu flüchten. Ich rannte. An ausgebrannten Autos, eingeschlagenen Fensterscheiben und kaputten Ampeln vorbei, durch Gassen immer tiefer in den Schutz der Hochhäuser. Ich wollte nicht gefunden werden. Das war sicher Teil der Prüfung. Es machte soviel Spaß ich vergaß beinahe, dass diese Welt nicht real war.
Als das Geräusch in weiter Ferne langsam verklungen war, stand ich auf und ging aus dem veralteten Kiosk zurück auf die Straße. Er kam mir wie ein gutes Versteck vor. Ich bewegte mich langsam durch die Straßen, auf der Suche nach einem Hinweis. Etwas musste mich in diese Stadt geführt haben. Seit ich hier angekommen war, spürte ich etwas in mir hochkommen. Ein Gedanke, ein bestimmtes Gefühl, ich konnte es nicht einordnen. Es war wie ein Richtungsweiser, doch ich wusste nicht, wohin. Ich vertraute auf meine Intuition. Plötzlich sah ich es. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung war. Doch es war kein anderer Mensch, kein Tier oder ähnliches. Es war ein Spiegel. Ich hatte den großen, alles übertreffenden Spiegel beinahe nicht mehr beachtet, er würde seine Rolle haben. Doch dieser war in Lebensgröße. Wie magisch angezogen ging ich auf diesen Spiegel zu. Warum bist du hier? Als ich direkt vor dem Spiegel stand, verzerrte sich das Bild. Es war immernoch ich zu sehen, doch ich war ein anderes Individuum. Meine Haltung, meine Kleidung, meine Mimik. So wollte ich gesehen werden. Wie ein Schlag traf es mich und ich wurde mit Gewalt nach hinten gezogen. Die Welt links und rechts um mich herum verschwamm und ich sah nur noch einen Tunnel. Als ich langsamer wurde und wieder auf festen Füßen stand, war ich genau dort, wo ich eben gestanden hatte. Doch der Spiegel zeigte nur ein verzerrtes, beinahe kaputtes Bild meiner selbst. Ich drehte mich nachdenklich um und fragte mich, was mir das zu sagen vermochte.
Als ich nachdenklich durch die Straßen schlenderte, fiel mir auf der rechten Seite der langen Hauptstraße ein Gebäude auf, welches absolut modern und überhaupt nicht zerfallen aus eben dieser nahezu postapokalyptischen Stadt hervorstach.
Als ich nach der Türklinke griff, um in das besagte Gebäude einzutreten, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Eine Hand lag auf meiner Schulter. Vorsichtig wandte ich mich um. Ich hatte beinahe einen Herzinfarkt erlitten. Es war der Xtractor, der in seiner übernatürlichen Gestalt auf mich herunter sah und nickte. Ich versuchte mit ihm zu sprechen, ein paar Fragen zu stellen, doch ehe ich mich versah, war er wieder verschwunden. Einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob die Begegnung eben real gewesen war oder ob ich sie mir nur eingebildet hatte. Doch in meiner Hand fühlte ich etwas. Eine Chipkarte, die in ein kleines Fach neben der Tür eingeführt werden konnte, befand sich plötzlich dort.
Nachdem ich das Gebäude betreten hatte, musste ich vor Erstaunen erst einmal tief Luft holen. Ein atemberaubender Anblick bot sich mir, eine riesige Halle voller Säulen, Treppen, überwucherten Pflanzen und mit einem marmornen Boden, der das Licht aus den Fenstern so brach, dass es an die Wände gespiegelt wurde und den ganzen Saal in ein helles Licht tauchte. Ich stand wie angewurzelt da. Nach oben blickend konnte ich den Sternenhimmel sehen, obwohl es gerade etwa um die Mittagszeit sein sollte. Nachdem ich mich ein paar Minuten umgesehen und etwas weiter in das Gebäude reingegangen war, entdeckte ich, dass von oben extrem viele dünne Fäden herunter hingen. Ehe ich mich versah, fielen viele kleine Wesen auf mich und versuchten, eklige Matschbälle auf mich zu schießen. Ich rannte, durch die Halle, eine Treppe hoch, eine andere runter, bog links, rechts, rechts, dann wieder links ab, bis ich die kleinen Viecher nicht mehr hören konnte. Ich suchte meinen Körper ab und fand an meinem Bein einen dieser Matschklumpen. Ich versuchte, Ihn loszuwerden und wischte Ihn mit meinem Handrücken weg. Mit ebendieser Bewegung stieß ich versehentlich einen Holzsockel um, auf dem eine Schale mit allerlei Kram lag. Ich hatte Sie vorher nicht beachtet. Doch jetzt, wo die Schale zerbrochen am Boden lag, konnte ich sehen, dass sie etwas beherbergt hatte. Ich nahm einen kleinen, einfachen, silber glänzenden Schlüssel auf, doch beim Versuch Ihn in meine Hosentasche zu stecken, glitt er mir aus der Hand und fiel in einen Spalt zwischen zwei Fliesen. Der Matschklumpen hatte sich in der Zwischenzeit geteilt und ich hatte diese ekelhafte, klebrige Masse am Bein und an der Hand. Was für ein Unfug. Ich versuchte, die Masse von meinem Körper runterzubekommen, doch schaffte es nicht. Je mehr ich mich nun wehrte, desto fester klebte es an mir. Eine Blase formte sich langsam aus jedem bisschen dieses Materials. Ich sah nun zum ersten Mal, dass ich mich in einer Art Bibliothek befand. Vermutlich würde ich hier mehr herausfinden. Ich musste diese ekelhafte Masse von mir runter bekommen. Ich fing an, in den Regalen zu suchen. Keine Ahnung, wonach. Ich suchte bei M für Matsch, S für Spinnen und kam erst darauf, unter G für Gift zu suchen, als die erste Blase so groß war wie meine Hand. Sie schien jeden Moment zerplatzen zu können. Als ich tatsächlich ein Buch mit einem der komischen, spinnenähnlichen Tiere zur Hand bekam, lösten sich die Blasen und Klumpen automatisch auf. Ich dachte kurz darüber nach, welche Erfahrung ich daraus ziehen könnte. Ich war immer ein sehr ruhiger, intuitiver Mensch gewesen, der nicht direkt durchdreht, wenn etwas nicht perfekt läuft. Ich habe Klarheit behalten und mich direkt um das Problem gekümmert, obwohl ich nicht wissen konnte, ob es gefährlich ist oder nicht. Wenn ich das in andere Bereiche meines Lebens übernehme, könnte das sehr gegen Prokrastination helfen. Ich werde darüber nachdenken.
Mit dem Kopf voller Gedanken verließ ich die Bibliothek. Ich wandelte umher, suchte nichts und fand auch nichts. Keine anderen Menschen, nicht einmal die Spinnentiere ließen sich noch einmal blicken. Mit dem Blick gen Himmel kam ich irgendwann an einer Treppe an, die in eine Wand des Hauses hinein zu führen schien. Ich ging los, eine Stufe nach der nächsten, und entdeckte erst, als ich beinahe ganz oben angekommen war, dass die Treppe zwar an der Wand aufhörte, jedoch die Wand eine doppelte war. Ich klappte die zweite Tür auf und ging hindurch. Wenn ich doch nur immer so abenteuerlustig uneingeschränkt sein könnte, dachte ich bei mir selbst. Ich trat nach draußen, nachdem ich einem schmalen Gang etwa hundert Meter in diese Richtung gefolgt war. Als ich ans Geländer des Balkons trat, schloss sich die schwere Tür hinter mir.
Der Himmel war klar, es dämmerte. Ich blickte auf einen Strand, die Stadt hinter mir war scheinbar abgeschlossen. Am Strand konnte ich ein abgestürztes Flugzeug erkennen, während weiter hinten eine Ölplattform in Flammen gehüllt war. Erst die Stadt, jetzt das. So viel Zerstörung war ich gar nicht gewohnt. Ich wollte es auch langsam nicht mehr sehen. Meine Füße trugen mich die Treppen runter auf die Felsklippen, die ich anmutig hinunter kletterte. Ich war ein guter Kletterer in meiner Kindheit und bin es immer noch. Nachdem ich den Strand erreicht hatte, zog ich meine Schuhe aus, um den kühlen Sand zwischen den Zehen spüren zu können. Ich stieß einen Schmerzensschrei aus, nachdem meine Füße kurz den Sand berührt hatten. Ich hatte mich verbrannt, geschnitten und ein Stück Plastik ragte aus meiner Verse. Ich versuchte es zu entfernen, doch sobald ich es mit dem Finger berührte, verschwand es. Der Strand war auch aus Sand, und es war die ganze Zeit, seit ich hier war, nicht sonderlich heiß gewesen. Etwas drückend, aber aushaltbar. Dieser Strand war sauber, es gab kein Plastik weit und breit. Bis auf das brennende, abgestürzte Flugzeug war es das reinste Paradies. Warum sollte man hier nicht innehalten und genießen dürfen. Der Gedanke war noch nicht ganz zuende gedacht, als eine Abfolge aller schrecklichen Ereignisse dieser Welt vor mir abgespult wurde. Artensterben, Waldbrände, Großwildfischerei, kurzum Indikatoren für den Klimawandel. Ich verstand es. Die Welt war mal so gewesen. Es gab auch noch viele Paradiese dort draußen. Doch genau diese müssten beschützt werden. Ich empfand eine Welle der Ehrfurcht, des Zorns auf die Ignoranz der Menschheit und eine tiefe innere Dankbarkeit, dass ich diesen Moment verstanden hatte. Ich ging zu dem Flugzeug, auf dem eine Nachricht eingeritzt war. “Dort wo du am wenigsten versuchst zu finden, wirst du am meisten lernen. Gehe über dich hinaus und ertrage den Schmerz, sei zufrieden mit dem, was du hast und sieh alles wie einen Scherz. Jeder Weg führt dich ans gleiche Ziel, du entscheidest deine Taten und wie viel.” Einen Moment blieb ich stehen. Während ich darüber nachdachte, was dies bedeuten könnte, öffnete sich in der Brandung des Strandes ein Weg und man sah eine Treppe, die unter Wasser führte. Ich ging wie selbstverständlich darauf zu, betrat die erste Stufe der Treppe und ging ein paar Stufen, bevor sich mir ein nahezu endlos langer, gläserner Gang offenbarte. Ich war unter dem Ozean. Es war atemberaubend schön. Meine Fantasie hatte solche Dinge noch nicht gesehen. Fische schwammen umher, das Licht funkelte durch die Decke des Meeres auf mich und alles andere herab und viele verschiedene Arten bunter Fische tummelten sich um mich herum. Doch je weiter ich den Gang entlang ging, desto düsterer wurde es. Ich ging so lange, bis ich schließlich am Ende des Ganges kein Licht mehr sehen konnte. War das die nächste Prüfung? Mir fiel auf, dass um mich herum keine Fische mehr zu sehen waren. Was ich dafür sah, ließ mich den Atem anhalten. In etwa 5 Metern Entfernung lagen gelbe Fässer. Das war angereichertes Uran. Im Meer. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas einmal aus der Nähe betrachten würde. Ich habe mittlerweile auch den Grund für das wenige Licht entdeckt. Je weiter ich ging, desto dichter wurde die Plastikdecke an der Meeresoberfläche. Ich musste wissen, was mich erwartet. Ich ging immer schneller den Gang entlang, fing an zu joggen, zu laufen, zu rennen. Ich atmete schwer, als ich an eine kleine, runde Tür kam. Ich betrachtete die Tür und mein erster Gedanke stellte Ihre Stabilität in Frage, sie musste doch viel zu dünn für solche Wassermassen sein. Ehe ich mich versah, schien die Tür nachzugeben und brach. Ich erstarrte. Meine Muskeln bewegten sich nicht. Meine Augen schossen von links nach rechts, von oben nach unten und ich hielt mich an einer Stange fest, die bei meiner Ankunft noch nicht da gewesen war. Sie ist bestimmt stabil genug, versuchte ich andere Gedanken zu übertönen. Mein Körper wurde mit aller Wucht von den Wassermassen getroffen. Nachdem der Gang relativ schnell mit Wasser ausgefüllt war, schwamm ich aus dem Ende der Tür heraus. Etwas glitzerndes am Meeresboden nahm meine Aufmerksamkeit in Anspruch, bevor ich an die erfrischende Luft zurück schwamm. Nachdem ich es gegriffen hatte, stieß ich mich vom Boden ab und tauchte an dem Strand wieder auf, an dem ich etwa eine halbe Stunde vorher in den Tunnel gestiegen war. Nachdem ich das Wasser verlassen hatte, sah ich mir an, was genau ich dort gegriffen hatte. Es war ein kleiner, einfacher, silber glänzender Schlüssel.
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